Prag: die Welt zu Gast im Café Republica

Reportage in Zeiten des Krieges

Prag (kle) Zoé. London, Island, Sansibar, Chicago. Diese Orte kennt sie nicht. Noch nicht. Grußkarten aus der ganzen Welt hängen an der Wand im Prager Café Republica. Dazu: Mandatovon Jorge Drexler aus den Musikboxen. Wäre es nicht erst halb zehn morgens, ich wäre geneigt aufzustehen und zu tanzen. So aber bleibe ich mit meinen Blicken und immer stärker auch mit meinen Gedanken bei den Karten. Junge Menschen haben irgendwann ihre Komfortzone verlassen und kamen zurück. Gewachsen. Irgendwo dazwischen: Der Gruß nach Hause. Als kleinegroße Aufmerksamkeit, als eine Art Würdigung angezogener Werte zu lesen, zu verstehen als eine tiefere Botschaft: Die Welt da draußen ist verknallt in den ehrlichen Dialog, sie liebt die freie Entfaltung jedes Einzelnen und steigt mit dem guten alten Frieden in die Kiste. Verheiratet. Zoé aus Polen würde davon wohl ein Lied singen. Aber ihr Brei und meine Grimassen lenken sie etwas zu stark ab, die richtigen Töne zu treffen. Sie ist zehn Monate alt. Über ihrem Köpfchen all die Grußkarten. Zoé.

Eine Wand im Prager Café Republica. Foto: J.G. Klemenz

Bryan Araque. Er macht den Cappuccino im Café Republica. Etwas zerknirscht wirkt er, matte Gesichtsfarbe. Nach ein paar Minuten aber kommt er in Fahrt. Aus Venezuela sei er gekommen. Vor drei Jahren. Schusswaffen, mit denen sei er aufgewachsen, er kenne das bedrückende Gefühl aufzuwachen und nicht zu wissen, was einen erwarte. Eigentlich -er geht kurz in sich -habe er das alles hinter sich lassen wollen, und jetzt der Krieg ein paar wenige hundert Kilometer weiter östlich. Furchtbar. Tausende Flüchtlinge seien in den letzten Tagen in Prag eingetroffen. Mit dem Zug. Er und seine Freunde würden helfen, so gut sie das könnten. Und während er all das erzählt, fällt immer wieder ein Wort: Müde. „Wir alle sind sehr müde.“ Mit „wir“ meint er die meisten Prager an sich. Vor der Pandemie seien die Leute ins Café gekommen, um miteinander zu sprechen, zu flirten, zu knutschen. Heute bestellen sie einen Kaffee zum Mitnehmen und verschwinden. Ob der russische Präsident dieses Müdesein mit in sein kriegerisches Kalkül einbezogen habe, frage ich Bryan. Wieder überlegt er kurz, zieht dann aber nur leicht seine Augenbraue hoch und sagt: „Wahrscheinlich.“ Dann wartet schon die nächste Kundin. Mach‘s gut. Bryan.

Mlada Hošková. Sie könnte eine von Bryans Freundinnen sein, die hilft. Hauptbahnhof Prag. Ein bisschen verloren steht sie an der Rolltreppe von Gleis 2. Der eiskalte Wind pfeift durch die Tunnelanlagen des Bahnhofs. Sie trägt eine gelbe Sicherheitsweste. Auf der steht „Informationen für Flüchtlinge“. Und die kämen seit etwa drei Tagen verstärkt aus der Ukraine hier an und nähmen sie so besser als Ansprechperson wahr, lacht Mlada. Sie lacht. Und das tut gut. Die vielen gestrandeten ukrainischen Kinder und Jugendlichen sitzen inmitten der Gänge auf ihren Koffern und Kuscheltieren. Sie lachen nicht. Schon damals -2015 in der Hochphase des Syrienkrieges -habe sie hier am Hauptbahnhof den Kriegsflüchtlingen geholfen sich zu orientieren, damit sie dann weiter Richtung Deutschland, Frankreich oder England gelangen konnten. Das sei auch heute wieder so. Viele Ukrainer seien verwandtschaftlich eng mit Deutschland verbunden. Jedoch habe das aktuelle Geschehen noch einmal eine andere Qualität erhalten, erzählt mir Mlada. Was sie denn genau damit meine, hake ich nach. Kurz stockt sie, dann jedoch wird sie klar in ihren Worten: „Syrien ist weiter weg. Das hier sind doch unsere direkten europäischen Nachbarn. Es ist alles so unwirklich.“ Erleichtert sei sie etwas, das gibt sie ehrlich zu, weil sich die Regierung dieses Mal offener für die Aufnahme der Flüchtlinge zeige als noch vor sieben Jahren. Wo genau sich das geheime Restaurant für alle Kriegsflüchtlinge im Bahnhof befindet, möchte mir Mlada zum Schluss unserer kurzen Unterhaltung nicht verraten. Sie lacht. Mlada. 

Beate Roth. Anfang vierzig. Gebürtige Dresdenerin und Lehrerin für Literatur an einer renommierten Prager Schule. Ausgeglichener Typ. Zufrieden wirkt sie auf dem Sofa im Café Kaaba im zweiten Bezirk Prags. Ein Glas Merlot trinke sie nach all den Korrekturen ganz gerne mal, witzelt sie. Ernst wird sie bei der Antwort auf die Frage, wie man denn als Pädagogin in den letzten Tagen umzugehen pflegt mit den Ängsten und Sorgen der Schüler. Ihr komme es vor allem auf Authentizitätan, betont sie. Auch sie habe sich seit Kriegsbeginn in vielen Bereichen erst einmal einlesen müssen. Wozu sogenannte humanitäre Korridore eigentlich dienen würden oder wie es um die Sicherheit ukrainischer Atomanlagen im Kriegszustand bestellt sei, könne sie den Schülern jetzt sachlich beantworten. Bei anderen Problemen sei sie heillos überfordert. Das gibt sie offen zu. Einige Mütter und Väter ihrer Schüler kämen aus der Ukraine, aus Russland oder aus beiden Ländern. Familiäre Diversität. Unter einem Dach. Bis vor kurzem sei das völlig normal gewesen, seit letzter Woche aber sei es Grund für Unsicherheit, Tränen und Wut. Dann verstummt Beate. Wir starren die Tapete an. „Von einigen Vätern hört man seit Tagen nichts mehr“, sagt sie dann noch leise. Und müde sei sie. Beate.

Petra Venušová und Anna Baláková. Zwei Freundinnen. 26 Jahre jung. Immer noch im Café Kaaba. Anderer Tisch. Mittenim Leben angekommen sind sie. Aufgeweckt. Interessiert. Wahnsinnig kommunikativsind sie. Kennengelernt haben sie sich während ihres Studiums am Prager Institut für Deutsche und Österreichische Studien. Ihr Deutsch ist brillant. Jedes Wort wohl gewählt. Mehr als überrascht seien sie gewesen, als der tschechische Präsident Miloš Zeman vor einigen Tagen Wladimir Putin öffentlich als „einen Verrückten“ bezeichnete. Petra nehme das ihrem Präsidenten nicht so richtig ab. Der sei doch die ganze Zeit über russlandfreundlich gewesen, konstatiert sie. Anna stimmt nachdenklich zu und ergänzt: „Aber es ist ein kriegerischer Akt. Er muss sich klar positionieren.“ Überhaupt scheint ihr Präsident nicht der ihre zu sein. Aussprechen werden Anna und Petra das heute Nachmittag so aber nicht. Sachlichkeit ist ihr Milieu. Und genau diese ist es, die die Zwei in Zeiten trendiger, gesellschaftlicher Spaltungsphänomene so sympathisch macht. Verdammt emotional wird es dann aber doch noch. „Ich habe Angst.“ 

Petra habe dieser Satz schon von Beginn unseres Gesprächs an auf ihrer Seele gelegen. Ob sie die Angst konkreter beschreiben könne, frage ich sie. Zurückrudern konnte sie da nicht mehr. „Ich habe Angst, dass sie auch uns überfallen“, gibt sie unverhohlen zu. Sie blicke in den letzten Tagen stärker denn je zurück in die Geschichte ihres Landes. Russland scheine zu beginnen sich das zu nehmen, was es früher schon einmal hatte. Das mache ihrAngst. Angst hingegen könne Anna noch nicht in sich verspüren. Sie denke gerade irgendwie nur von Tag zu Tag. Und dabei ginge ihr ihre omnipräsente Hilflosigkeit ziemlich auf die Nerven. Willkommen in der neuen Sachlichkeit. Petra und Anna.

Prag. Am nächsten Morgen. Halb zehn. Café Republica. Sign Of The Timesvon Harry Styles aus den Musikboxen. Es schneit. Zoé frühstückt heute nicht unter den Grußkarten dieser Welt. Bryan macht heute nicht den Cappuccino. Seine Kollegin Ksenia kann das auch sehr gut. Mlada werde ich heute nicht noch einmal im Hauptbahnhof besuchen. Sie hat bestimmt genug zu tun. Ich hoffe, ihr wird das Lachen nicht vergehen. Beate. Sie ist Lehrerin für Literatur. Keine Waffenexpertin. Und Petra und Anna. Aufgeweckt, interessiert und wahnsinnig kommunikativ sind sie. 26 Jahre jung. Na, wenn das mal nichts ist.

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Flanieren in Neuss – unterwegs zwischen Hoffnung und Bitterkeit

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Von Köln über die Steiermark nach Wien und wieder zurück