Flanieren in Neuss – unterwegs zwischen Hoffnung und Bitterkeit
Neuss (kle) Nora und Karsten. Krämerstraße 13. Nora Funke schlendert gemütlich ins Café Eigenart. Moderne Kopfhörer im Ohr: Den Song Go Rilla von Fil Bo River summt sie mit. Unverschämt gutgelaunt. Ein traurig schöner Song. Ein paar Sekunden später steht sie an der Kaffeemaschine und schaut keck zwischen den Keksgläsern hindurch. Sie habe schon alle durchprobiert, gibt sie stolz zu. Dann zischt sie ab. Nach draußen. Ein Zigarettchen geht noch vor Schichtbeginn. Ihr Chef: Karsten Lorenz. Der sitzt schon länger mit einem Gast in der Sonne vor dem Café. Die aufgeschlagene Tageszeitung bietet reichlich Stoff für Anekdötchen: Diese Benzinpreise. Ein Bekannter würde versuchen Rapsöl in seinen Diesel zu schütten. Ob das gut gehen werde. Man rätselt. Man hält inne. Kurz. Dann kommt der Paketbote. Der bekommt einen Espresso serviert. Mit Zucker. Man plaudert. Alles wie immer? Es fühlt sich nicht so an. Nora und Karsten.
Ridvan „Richie“. Ein paar Schritte weiter. Marktplatz. Der stadtbekannte Streetworker Richie Ucar kreuzt zufällig meinen Weg. Und er erzählt. Von seiner gestrigen Tour durch die Stadt. Von den beiden gestrandeten Bulgaren, die nicht in der Notschlafstelle haben bleiben wollen. Davon, wie er sie anspreche, die jungen und alten Menschen am Rande unserer Gesellschaft. Wie er selber balancieren müsse auf diesem Rand, der immer dicker werde. Jahr für Jahr. Es könne mitunter auch heftiger zugehen. Natürlich. Aber meistens finde er schnell einen Draht zu denen, die auf der Straße leben. Das nehme ich ihm ab. Sofort. Er sprüht nur so vor Energie. Vor Uneigennützigkeit. Vor Sensibilität. Das einzig Harte sind die mächtigen Ringe an seinen Fingern, so scheint es. Er habe gelernt, seine Ansprüche herunterzuschrauben, sinniert er und fügt hinzu: „So kannst du deine Energien noch besser für das Wesentliche nutzen.“ Was das denn sei, das Wesentliche, frage ich ihn. Er grinst verstohlen: „Mit ihnen in den Dialog zu treten.“ Alles andere komme dann meist von selbst. Schritt für Schritt. „Ihnen“, denke ich kurz, kann morgen auch man selbst sein. Jobverlust. Scheidung. Krankheit. Krieg. Gründe, den existenziellen Boden unter seinen Füßen zu verlieren, die gibt es genug. Gründe, sich trotz dieses Verlustes wieder aufzurichten, die sind nicht immer für jeden klar erkennbar. Wie gut, dass es ihn gibt. Ridvan „Richie“.
Marcel und Safira. Neustraße 3. Eloquent ist er, Marcel Fornaçon, der Besitzer des Cafés Koffi. Geradeaus. Höflich. Er nimmt sich Zeit. Für mich. Er nehme sich Zeit. Für die Ängste und Sorgen seiner Mitarbeiterinnen. Und die seien enorm gewesen in den letzten zwei Jahren, verrät mir Safira Müller. Sie hat das Geschehen im Blick. Im Hintergrund läuft Reality And Fantasy von Raphael Gualazzi. Ein traurig schöner Song. Es sei gut gelaufen, betont Marcel. Der Laden gegenüber, plötzlich habe er leer gestanden. Er investierte. Geil. Ein Traum von Expansion. Und dann, dann kam Corona. Und mit dem Virus seine persönlichen Kaltschweißattacken. Marcel schwitzt auch jetzt etwas, während er das alles so erzählt. Nachvollziehbar. „Von Jetzt auf Gleich kannst du deine Rechnungen nicht mehr begleichen, Mahnungen flattern rein. Da geht dir der Arsch auf Grundeis“. Er durchlebt das alles in diesem Moment noch einmal. Das ist mir unangenehm. Unangenehm. Davon könne er ein Lied singen. Niemand beantrage gerne die staatliche Grundversorgung. Auch er nicht, flüstert Marcel. Knapp sei es gewesen bisher, seine Ersparnisse habe er aufgebraucht. Safira schaut kurz herüber. Lächelt. Sie hat das Geschehen im Blick. Beeindruckend. „Und jetzt, jetzt der Krieg.“ Marcel schwitzt wieder etwas. Der Krieg mache alles teurer. Die Besucher würden seit ein paar Wochen auch weniger Trinkgeld geben, fällt ihm noch ein. Er flucht nicht. Beeindruckend. Marcel und Safira.
Info: Der Flaneur ist ein Einzelgänger, der durch die Straßen läuft, sich Notizen macht und auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens oder dem Sinn eines Augenblicks seines Lebens ist. Dieser Augenblick wird begriffen nicht nur als eine Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch als Augenblick des Staunens über den Alltag der Menschen unabhängig von Zeit und Ort. Die bewegliche Perspektive des Flaneurs innerhalb der Großstadt bleibt in der Literatur trotz des ausgerufenen Endes des Flanierens bestehen, auch wenn sie sich hin zu postmodernen Bedürfnissen verschiebt. Die ziellose Bewegung des Flaneurs wird zu einer Bewegung in einer labyrinthischen Großstadt und der anonyme Flaneur zum Identitätslosen. (Simone Malagut: Intermediale Beziehungen im Film „Der Himmel über Berlin“. In: Revista Contingentia. Band 5, Nr. 1, 2010 / Stephanie Wodianka, Juliane Ebert: Flaneur. In: Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hrsg.): Metzler-Lexikon moderner Mythen.) Figuren, Konzepte, Ereignisse. J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar 2014.)