Von Köln über die Steiermark nach Wien und wieder zurück
„Leben ist das, was dir passiert, während du eifrig dabei bist andere Pläne zu machen“ (John Lennon)
Köln (kle) Wien, 9. Bezirk, Jörg-Mauthe-Platz, unter einem aufgespannten Sonnenschirm im Café La Mercerie: Die in die Jahre gekommene Tram der Linie D rauscht voller Würde die Porzellangasse Richtung Nordwest vorbei, Salsa Musik dringt aus dem Restaurant Plain nebenan, die Löffel in den halbvollen Kaffeetassen der Frühaufsteher spielen ihre eigene enthemmte Melodie dazu. Leben. Ganz pur, ganz laut, völlig im Jetzt. Willkommen.
„Willkommen der Herr, sind sie geimpft, getestet oder genesen?“, fragt mich Ünal Arica, der äußerst aufmerksame Serveur des bei Einheimischen sehr beliebten Cafés in der Nähe des Sigmund Freud - Hauses in der Wiener Berggasse. Es sei ihm unangenehm das von seinen Gästen einzufordern, beteuert der im französischen Blois aufgewachsene Kosmopolit mit türkischen Wurzeln glaubwürdig, aber so seien nun einmal die Bestimmungen der österreichischen Regierung. Doch die könnten sich jederzeit wieder ändern, fügt er schnippisch hinzu und verschwindet leichtfüßig hinter den Tresen.
Und das ist die alte und zugleich neue Idee: Von Köln über die Steiermark nach Wien und wieder zurück in zehn Tagen. Wie geht es den Menschen, denen ich im letzten Sommer inmitten der Pandemie begegnet bin? Die eigentliche Kunst, so stellte sich während der Reise immer klarer heraus, würde darin bestehen sich von dieser Frage und ihren möglichen Antworten lösen und anderen Menschen und deren Geschichten Raum geben zu können.
Eine davon ist die von Barbara Eisner. Dunkelblondes Haar, halblang, ein keckes Lächeln ziert ihr Gesicht. Funktional gekleidet steht sie kurz vor Mitternacht einfach so da im Gemeinschaftsraum des Benediktinerstifts Admont. Ein Glas Stiftwein später erzählt die freie Museumskuratorin von ihrem jahrelangen Bestreben, die zwei bedeutenden Habsburger Persönlichkeiten Friedrich III. und seinen Sohn Maximilian I. in einer Ausstellung im Stile eines Raum-Zeit-Gefüges miteinander zu vereinen. Auf ihrer Spurensuche zur Ausstellungsvorbereitung, die sie durch halb Europa geführt habe, sei es ihr wichtig gewesen, noch nicht bekannte Exponate der beiden Kaiser ans Licht zu bringen. Dass die Sonderausstellung „Wir Friedrich III. & Maximilian I. - Ihre Welt und ihre Zeit“ nach einer coronabedingten Verschiebung im letzten Jahr nun in diesem Sommer stattfinden kann, erfülle sie mit einer gewissen Demut, stellt sie beinahe überraschend fest, entschuldigt sich und fügt noch beiläufig hinzu: „Morgen ist es soweit, die Vitrine mit dem Amts- und Zeremonienschwert von Maximilian I. wird für kunsthistorische Untersuchungen einige Minuten geöffnet.“ Wie aufregend. Ich wünsche ihr eine ruhige Nacht.
Wie er sich denn in diesem doch sehr außergewöhnlichen Moment fühlen würde, frage ich etwa neun Stunden später den 32-jährigen sogenannten „Waffenexperten“ Michael Zimmermann, schließlich halte man nicht alle Tage das Schwert eines mythenumwobenen Kaisers des ausgehenden Spätmittelalters in der Hand, betone ich langsam, um meiner in diesem Moment schwächelnden Stimme mehr Ausdruck zu verleihen. Es nutzt nicht viel, seine speziell für solche kunsthistorischen Untersuchungen angefertigten Messinstrumente lässt er nicht einen Moment aus den Augen, er redet über physikalische Gesetzmäßigkeiten, die notwendig gewesen seien, um solch ein Schwert dieser Art am Ende des 15. Jahrhunderts herstellen zu können. Ich wiederhole meine Frage. Die Stimmung wird rauer, eine gewisse Anspannung säumt den dunklen Ausstellungsraum, die Presse sei bedauerlicherweise zu oft nur interessiert an Schlagzeilen, die die menschlichen Emotionen unnötig anheizen würden, mischt sich Robert Wlattnig, Leiter der kunstgeschichtlichen Abteilung des Landesmuseums Kärnten, hörbar erregt ein. Schließlich unterstreicht Herr Zimmermann mit dem Schwert in der Hand, dass es für ihn keine Rolle spiele, ob Maximilian I. dieses Schwert in der Hand gehalten habe, ihm gehe es ausschließlich um die wissenschaftliche Erkenntnis. Geschichte so nah und doch so fern. Schade.
Sehr viel näher komme ich dann einen Tag später Nicole Köberl. Die 18-jährige Schülerin der HTL Leoben - hierbei handelt sich um eine höhere technische Lehranstalt mit hoher berufspraktischer Anbindung - führt mich spontan - ohne vorherige Anmeldung! - durch die Brauerei des besten Bieres Österreichs. Das zumindest würden viele einzelne Statistiken belegen, nicht zuletzt auch der gemessene Bierkonsum in ihrem Land, erläutert die zukünftige Leergut-Managerin in ihrer sympathisch steirischen Mundart. Trotzdem, das Beste bleibt ein gewagter Superlativ, doch viel Raum für kritische Fragen lässt die gebürtige Leobenerin nicht, sie schweift etwas ab - ihre Oma, Monika Diregger, leite das Museum der Brauerei, das vor allem gerne von jungen Männergruppen besucht werden würde - und kommt dann doch wieder zügig zurück zum Wesentlichen: Ein durch und durch grüner Betrieb sei der wohl bekannteste Arbeitgeber der Steiermark. „Und zu unserer Rechten sehen wir gleich einen Betriebsesel“, fährt sie weiter fort, ein Schmunzeln kann ich mir nicht verkneifen.
Besser wäre das wohl gewesen, denn ein paar Meter entfernt steht genau so einer. Er sei einer von etwa fünfzehn Eseln, die das Gras der umliegenden Wiesen fressen würden. „Oft vereinsamen die Esel in irgendwelchen Hinterhöfen. Wir ermöglichen diesen Tieren so ein besseres Leben“, sinniert Fräulein Köberl, „und es braucht keine dieselfressenden Rasenmäher mehr“, fällt ihr noch ein. Wir schlendern weiter zum Herzstück der Brauerei, zu den Sortierungs- und Abfertigungshallen. Stickig, laut ist es. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr, Flaschengedränge auf den Förderbändern. Fräulein Köberl verweist gekonnt auf die einzelnen Schilder, die den Besuchern auf verständliche Weise erklären sollen, was denn hier eigentlich passiert. Zum Beispiel: „Vollautomatische Flaschenabfüllung. 36.000 Flaschen pro Stunde. Bei 3-Schicht-Betrieb tägliche Abfüllung von 720.000 Flaschen oder 36.000 Kisten Gösser Bier.“ Daten, Zahlen, Fakten. Und in ihnen enthalten: Die Menschen, die hier arbeiten. Zusätzlich angefeuert durch elektronische Banner mit wild blinkenden Prozentzahlen über ihren Köpfen. Motto: Was habe ich schon geschafft, wieviel muss ich noch schaffen?
Zurück in Wien, 9. Bezirk, Jörg-Mauthe-Platz, Café La Mercerie. Weshalb er denn eigentlich nach Wien gezogen sei, frage ich Ünal Arica, der gerade etwas gestresst ist, weil er neue, selbstgebackene Baguettes der eigenen Bäckerei aus dem Keller holen muss. Seine Eltern hätten ihn gebraucht, speziell seinem Vater sei es damals, vor 6 Jahren, nicht so gut gegangen. Eine Familie stehe doch zusammen, jedenfalls sei das so in seiner Heimat. Ich lasse meinen Blick schweifen in Richtung Sigmund Freud - Haus, frage mich, was er wohl dazu gesagt hätte, bestelle noch einen Café au Lait zusammen mit einem Pain au Chocolat und denke darüber nach, ihn auf der Rückfahrt nach Köln kurz zu besuchen, meinen Vater.