Budapest: ein Soundtrack

Budapest (kle) The Stranger von Leonard Cohen frisst sich liebevoll in die Wände meiner dunklen Hinterhofwohnung im Budapester Stadtteil Belváros / Lipótváros.You try to handle of the road, it opens, do not be afraid. Die Geschichte beginnt oft genau so an einem neuen Ort. Und das ist gut. Ich drehe den Torknauf. Erst vorsichtig, dann etwas beherzter. Die schweren Holztüren ruckeln, knarzen, öffnen sich. Da ist er. Der Klang Budapests. Ungefiltert. Ungebremst. Unaufhaltsam. Do not be afraid.

Reporter Jörg Klemenz (v.re.) zusammen mit Görög (h.) im Kazimir

Das Credo der kommenden Tage ist also gesetzt. Und klar gesetzt am Ende der Trefort utca ist auch das rhythmische Klatschen. Das und eine überaus strenge Stimme –Egy és két és há‘ és négy (Eins und zwei und drei und vier) –hämmern schamlos aus den Kellerräumen des ELTE Trefort Gymnasiums nach draußen. Dazu: Eine fröhliche Violine aus blechernden Musikboxen. Das ist der Csárdás. Ein Traditionstanz der Ungarn. Zuerst langsam (lassú), später wild (friss), sagt das Lexikon. Interessieren wird das die Kids da unten nicht in ihren kecken Tanztrikots.Mutig und selbstverständlich wirbeln die Jungs die Mädchen bei Legényes von Muzsikás durch den Raum. Ambitioniert sieht das aus. Konzentriert. Beseelt. Ich gehe weiter, denke nach über das Weitergeben von Tradition. Die Violine und die strenge Stimme verblassen. Egy és két és há‘ és négy. 

Überhaupt das Thema Farbe im metaphorischen Sinne. Es durchdringt Budapest. Überall. In all seinen Facetten: Graffitis an jeder zweiten Hausfassade. Gerüche junger japanischer Schnurbäume oder ahornblättriger Platanen. Gespräche voller liebevoller Melodien. Denn Ungarisch ist eine liebevolle Melodie. Und Kata und Anna aus dem Café Massolit Books in der Nagy Diófa utca singen diese Melodie in Perfektion. Überrascht seien sie schon ein wenig, das geben sie zu. In ihrer beinahe unwirklichen Wohlfühloase aus gefüllten Bücherregalen, gemütlichen Sitzecken und einem kleinen Garten, in den sich ein paar wenige Grübler verirrt zu haben scheinen, frage sonst niemand explizit nach der Rolle von Musik. Aber ein paar Sekunden später sprudelt es aus ihnen heraus. Sie würden bei ihrer Songauswahl bewusst auf Tempo und Stimmung achten. So könne die Musik den Grüblern beim Grübeln helfen. Beschwerden zur Musik kämen da nur selten vor, lacht Anna. Kata lacht auch. Etwas verhaltener. WelchesLied Kata denn in letzter Zeit am liebsten höre, möchte ich am Ende der Unterhaltung noch wissen. Sie antwortet nicht, sie spielt es vor. In Hell I‘ll Be In Good Company von The Dead South. Dead love couldn‘t go no further.

Aber ich bin verknallt. Mindestens. In die schweren Holztüren. In den Csárdás. In den Bookstore von Anna und Kata. Und in Görög. Der arbeitet im Kazimir Étterem. Das ist ein ziemlich bekanntes Jazz-Restaurant im jüdischen Viertel von Budapest. Voll ist es nicht. Görög -eigentlich heißter Athanasios, aber das könne sich doch niemand merken, erklärt er kurz -trägt das Lachssteak in Ginger-Sesam Sauce Hollandaise erschreckend leichttänzelnd zu der amerikanischen Familie neben mir. Aufgelegt hat er dafür Jazzdancer von Mop Mop. Das macht die Szenerie nicht weniger surreal. Abtauchen in die Budapester Jazzwelt schon am Mittag, das geht hier auf der Kazinczy utca. Mit Görög. Ein paar Meter weiter: Der Jazzdanceristtot. Es lebe America‘s Most von Method Man & Redman. Aufgelegt wird das von den Jungs in der Bors GasztroBár. Die Türen stehen sperrangelweit offen. Die Beats hört man schon, die wippenden Studenten und Touristen sieht man schon von weitem. Hart ist das. Oldschool Hip Hop ist das. Und zu all dem gibt‘s heiße Baguettes, frisch aus dem Ofen. Gegessen habe ich nichts. Getanzt habe ich. Auf der Straße. Here‘s my name and number, lets „La Rumba“.

Im Kisüzem am Klauzál tér steht ein Klavier an einem der großen Fenster. Im Vorbeigehen habe ich es berührt. Gegessen habe ich dann da. Einen italienischen Salat. Die Kellnerin ist total gut drauf. Noémi heißt sie. Sie dreht die Anlage auf Anschlag: Let Me Blow Ya Mind von Eve und Gwen Stefani lässt die Scheiben in der kleinen Fabrik (Kisüzem) vibrieren. Das Ganze: Eine Spur zu laut und zu übergriffig irgendwie. Noémi sind die Gesichter zu solchen Gedanken sicherlich nicht fremd. Aber egal sind sie ihr. Definitiv. Sie schreit mir drop your glasses, shake your asses zu. Dabei interessiert mich doch die Geschichte des einsamen Klaviers so viel mehrals irgendein Hintern. Das sage ich Noémi. Und sie erzählt sie mir. Ein bisschen jedenfalls. Ein Kellnerkollege spiele ab und zu auf dem Klavier, dann stünde die halbe Straße vor der kleinen Fabrik und applaudiere -die Vorstellung finde ich wunderschön -, aber eigentlich müsse es mal wieder dringend gestimmt werden, schmunzelt Noémi. Betrunkene Touristen sollten bloß die Hände davon lassen und nicht darauf herumklimpern. Sie wolle doch keine Gäste verscheuchen. Das will doch niemand, Noémi. Drop your glasses, shake your asses.

Und wem das alles schon jetzt zu abgefahren ist, der sollte es etwas ruhiger angehen. Im Vinikli vielleicht. Auf dem Múzeum körút. Die Weinauswahl ist unfassbar gut. Die Musik ist ein Traum. Wenn die Dämmerung beginnt, legt Daniel gerne mal Royal Blood auf. Hole In Your Heart und dazu ein Glas Pinot Noir. Abgefahren. Der Wein schmecke laut Wissenschaft so noch eine Spur intensiver, erzählt er. Ich glaube ihm das mal. Glauben kann ich aber nicht, was ich im hinteren Teil der Tiny-Weinbar sehe: Eine stattliche Auswahl an Fahrradutensilien. Schläuche. Luftpumpen. LED-Lampen. Zum Kauf angeboten. Abgefahren. Und: Alle, die zuviel tränken und nicht mehr mit dem Rad nach Hause kämen, könnten ihren Drahtesel hinter der Theke abstellen und am nächsten Tag abholen. Auf Wunsch auch repariert. Abgefahren. So baby don‘t fake it.

The Stranger von Leonard Cohen habe ich nicht mehr gehört. Heute verlasse ich meine dunkle Hinterhofwohnung. Verlasse Budapest. Die Geschichte endet oft genau so an einem liebgewonnen Ort. Und das ist gut. Ich drehe den Torknauf sicher und beherzt. Die schweren Holztüren rucken, knarzen, öffnen sich. Do not be afraid.

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