The 1975: voll die 80er-Jahre Pop-Diskothek
Köln (kle) Ein Geheimtipp innerhalb der Fangemeinde sei es gewesen, um halb fünf vor dem Kölner Palladium zu stehen, um dort ein Nümmerchen samt Bändchen für einen Konzert-Früheintritt ergattern zu können. Halb fünf in der Früh, versteht sich. Einige der meist jungen weiblichen Fans der britischen Pop-Rock-Band The 1975, die ihren Durchbruch 2013 mit der Single „Chocolate“ feierte, deren Frontmann Matty Healy als eine der charismatischsten Persönlichkeiten der jüngeren Pop-Geschichte gehandelt und als eine Art Priester der Millennials betrachtet wird, stehen also schon geschlagene 17 Stunden auf den Beinen, als die vier Jungs aus Manchester unter weißgold-zuckenden Stroboblitzen und ekstatischem Jubel die Bühne betreten und mit „The City“ sofort die Bude abbrennen. Ohne Worte. Es braucht nur „Yeah, you wanna find love then you know where the city is“. Das Palladium gleicht einer einzigen Generation Y-Hyperventilations-Tüte.
Dass in dieser Hitzigkeit die immer wieder über die Bühne schlendernden Roadies in weißen Arztkitteln und das liebevoll gestaltete Bühnenbild – ein Wohnzimmer mit alten Lampen, Bücherregalen und Röhren-Fernsehern – zuweilen in den Hintergrund des Interesses gerät: verständlich. „Vielleicht symbolisieren die Ärzte die Fragilität der eigenen Komfortzone“, philosophiert ein Fan kurz vor Beginn der Show. Klingt einleuchtend. Die ersten Nummern der Briten dagegen klingen wie der Soundtrack einer gesamten Generation. „Milk“, „Me & You Together Song“ oder auch „Anobrain“ treffen, ja, durchbohren den musikalischen Nerv der Zeit wie Tells Pfeil den Apfel. Beim Lied „Medicine“ schafft es ein Fan sogar, mit jemandem vom Sicherheitspersonal zu tanzen. Was für eine Szene.
„Are you feeling good?“, säuselt Healy ins Mikro. Die Frage scheint so überflüssig, ihre Antwort dagegen so notwendig. Die etwa Fünftausend bekreischen das Leben. Und ihr Idol. „Matty, Matty, Matty“, rufen sie im Takt. Der ist ergriffen; lässt die Maskerade eines Rockstars für einen kurzen Moment fallen. Apropos: Rockstar zu werden sei für ihn schon immer ein Teil seiner Realität gewesen, gab Healy mal in einem Interview zu. Eine Zeit lang verstand der Ex-Freund des Megastars Taylor Swift unter diesem Star-Sein jedoch auch, provokant daherzukommen und anzuecken, schockierende Inhalte in sozialen Medien zu posten, den Hitlergruß zu zeigen oder Fans mit Knutsch-Attacken zu überrumpeln. Das alles passiert heute Nacht nicht. Da sind nur The 1975, die Fans und ihre gemeinsamen Lieder, die so einen ganz eigenen Flow besitzen. Fühlen sie sich doch wie eine kleine Sauerstoffblase unter Wasser an: Erst stupst sie ganz zart an deine Wangen, bevor sie langsam und lautlos an die Oberfläche schwappt und sich pulverisiert. Die magnetische Wucht der Musik ist enorm. Es ist kaum möglich, sich der Gemengelage aus Komposition, Stimme und Aura der Band zu entziehen.
Wie es weiter geht: Paare singen sich bei „Somebody Else“ gegenseitig an, bevor sie sich küssen, aufhören zu singen und sich verlieben. Aufs Neue. Das beste Liebeslied seit langer Zeit. Danach können a-ha und Konsorten einpacken. Mit „If You’re Too Shy (Let Me Know)“ verwandeln The 1975 das Palladium in eine fortwährend auf- und abspringende 80er-Jahre Pop-Diskothek. Fazit: The 1975 sind Stars. Und eine der relevantesten Pop-Bands der Gegenwart.