Benjamin Clementine öffnet die Einmachgläser

Düsseldorf (kle) Gleich geschieht etwas Großes. Wie ein unsichtbarer Schleier schwebt dieses Gefühl kurz vor Konzertbeginn des britischen Musikers Benjamin Sainte-Clementine durch das Rondell der Tonhalle. Denn in der gastierte der gebürtige Londoner im Rahmen des New Fall Festivals gestern Abend. Während die meisten der rund 500 Zuschauer mittlerweile ihre Plätze eingenommen haben und sich der süßliche Rauchgeruch der Nebelmaschine zwischen den Ritzen der vorderen Reihen festbeißt, fragt ein Zuschauer seinen Nachbarn „War Clementine früher nicht mal Straßenmusiker?“ Zeit zu antworten bleibt nicht, betritt doch in diesem Moment der früher obdachlos in Paris lebende Songwriter zusammen mit seinem Bassisten die Bühne. Barfuß.

Und dann: Dann bleibt einem beinahe das Herz stehen. Denn dieser eine knochige Basslauf direkt zu Beginn der Nummer „Residue“ bekommt das ohne Weiteres hin. Aber nicht aus seiner Eigendynamik heraus, sondern weil alle wissen, was auf ihn folgen wird. Nämlich Clementines Gesang: „Fire in my Nubian eyes / Is everything spiritual“. Seine Stimme geht durch Mark und Bein. Mächtig ist sie. Einfühlsam. Eines allerdings ist sie am allermeisten: unumstößlich. Nichts, so scheint es, kann sie stoppen. Wie paralysiert schauen die Zuschauer hoch zu dem einstigen Pariser Straßenmusiker, der da so aufgetürmt sitzt in seinem weißen Leinen-Outfit hinter dem schwarzen Flügel und „Gypsy, wo bist du? Gypsy in der Tonhalle“ in sympathisch gebrochenem Deutsch ins Mikro flüstert. Kein Räuspern, kein Niesen, kein Mucks ist zu hören.

Gäbe es überdimensional große Einmachgläser mit der Aufschrift „Lieder von Benjamin Clementine“, man spränge ohne Zaudern und Zögern in sie hinein. Kopfüber, versteht sich. Möchte man sie doch spüren, diese Ehrlichkeit und Brutalität seiner Songs. „Let love find, let love find, let love find / the wrong“. Und dass der 34-Jährige eher einer von der Sorte „Introvertierter Entertainer“ ist, verleiht seiner Musik noch mehr Tiefgang - auch wenn der Clementine gesanglich, mimisch und gestisch ab und zu ein kleines bisschen am Rande des Wahnsinns umherwandeln und Verse wie „We are trapped in free“ minutenlang in unterschiedlichen Konnotations-Formen singen lässt.

Wild und ungestüm sind seine Kompositionen, deren Arrangements zum Teil wie aneinander- und übereinander geklebt daherkommen, weil Clementine sie vorher aus den imaginären Einmachgläsern herausgefischt und ordentlich an der Wäscheleine aufgehängt hat. Schließt man für einen Moment lang die Augen, könnte man meinen, ein Gospel-Chor, eine Grunge-Band, ein Rapper, Soulsänger und Klassik-Pianist teilen sich die Bühne. Aber: Da ist einzig Benjamin Clementine. „Ich bin glücklich“, sagt er am Ende noch leise, bevor er sich schließlich mit einer seiner schönsten Nummern – „I Won’t Complain“ – verabschiedet. „It's a wonderful life“. Das ist groß.   


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