Massendefekt: „Wir können uns gegenseitig extrem auf die Nerven gehen”
Düsseldorf (kle)
Massendefekt - die vier Jungs aus Meerbusch - touren seit mittlerweile 23 Jahren durch die Republik und gelten als eines der Aushängeschilder der Düsseldorfer Punkrock-Szene. 2016 standen sie sogar schon als Vorband der australischen Altrocker von AC/DC auf der Bühne. Am 26.01.24 nun veröffentlichten sie ihr neues Album „Lass die Hunde warten“.
Lieber Sebi, Nico und Mike von Massendefekt. Danke, dass ihr euch heute Zeit für die Rheinische Post nehmt.
Meerbusch. Nobel. Wie fühlt man denn hier Punkrock?
*Gelächter*
S: Meerbusch ist die reichste oder zweitreichste Stadt NRWs[1]. Und wenn man mit diesem Reichtum nichts zu tun hat, spürt man den Punkrock sehr wohl. Man könnte auch sagen: Alleine, dass Meerbusch eine Punkrock-Band hat, ist schon Punkrock.
N: Aber in Sachen Proberaum kann man als Punkrocker gerne auch Abstriche machen. So schön gepflegt im Keller unterm Verkehrsamt proben, das geht schon.
Apropos gehen: Welche neuen Alben gehen bei euch zurzeit gut durch den Plattenspieler?
N: Letzte Woche haben die Emil Bulls ihr neues Album veröffentlicht. Das ist auf jeden Fall ein Mega-Brett. Und Kapelle Petra aus Hamm haben ein superschönes Album herausgebracht. Diese beiden Scheiben sind für mich bisher die beiden Alben des Jahres.
Das Emergenza-Festival hat die Emil Bulls berühmt gemacht.
S: Ist Emergenza nicht dieses Abzock-Festival, bei dem die Bands die Tickets selber verkaufen müssen?
N: Ja, das schon. Aber trotzdem hat das Konzept dieses Festivals auch gute Bands hervorgebracht. Itchy zum Beispiel sind dadurch bekannt geworden.
Zurück zu euch hier in den Proberaum. Welches Probe-Ritual lasst ihr euch nicht nehmen?
S: Wenn wirklich mal alle Bock auf die Probe hätten, wäre das schon geil und eine Art Ritual. Aber so ein richtiges Ritual haben wir eher vor jedem Konzert.
Welches denn?
S: Kurz vor Beginn eines jeden Konzerts stellen wir uns zusammen in den Kreis und brüllen uns eine sechsstellige Zahlenreihe, bestehend aus der Ziffer 7, entgegen. Dann folgt die Frage „Wer sind die Geilsten?“ mit der Antwort „Ich und mein Kumpel Jochen“. Dann geht es auf die Bühne.
Was macht dieses Ritual mit euch?
S: Ich würde mich unwohl fühlen, vergäßen wir dieses Ritual. Mir würde etwas fehlen.
N: Das ist so ähnlich wie mit dem Fußballspieler, der den Platz immer zuerst mit dem linken Fuß betritt. Wir wagen es daher nicht, ohne dieses Ritual auf die Bühne zu gehen. Sonst geht der Auftritt vielleicht komplett in die Hose.
Wann wusstet ihr: Das neue Album „Lasst die Hunde warten“, das wird gut. Das wird nicht in die Hose gehen?
S: Das wusste ich vom allerersten Moment an, als wir das einführende Gitarrenriff der ersten Nummer „Zugvögel“ gespielt haben. Das war ein geiles Gefühl. Natürlich blieb dieses Gefühl nicht fortwährend bestehen: Es gab schon viele Tiefpunkte während des Songwritings. Aber der Start war voller Energie. Und ich wusste, wenn wir am Ball bleiben und ich meine Bilder im Kopf zulassen kann, dann wird das neue Album gut.
Bilder im Kopf?
S: Im Prinzip ist es die Frage, ob ich hier im Proberaum vor und mit den Bandkollegen über meine eigenen Gedanken, Gefühle und Ideen sprechen kann. Manchmal hat man eine Sache im Kopf und hofft, dass sie einen nicht auslachen werden. Denn es ist ja oft etwas Persönliches, das man hier mit hineinbringt. Und wenn ich schließlich merke: Niemand lacht und wir können über einen Gedanken reden, dann tut das mir, dem Song und dessen Idee gut.
Hast du ein Beispiel?
S: Bei der Nummer „Sommerregen“ war das so. Da hatte ich das Bild eines Mädchens vor Augen, das an einer Depression leidet. An einem warmen Sommer-Tag während eines kräftigen Regenschauers draußen beginnt das Mädchen einfach zu tanzen und vergisst dadurch ihre Depression. Zumindest in diesem Moment. Darüber singe ich.
N: Es gab aber auch viele Momente im Songwriting-Prozess, in denen wir uns sehr energisch über die Verse gestritten haben. Bei „Sommerregen“ konnte ich beispielsweise mit der Textstelle „So viele Fragen, die blenden“ zunächst nicht viel anfangen.
Inwiefern gab es Momente, in denen auch politische Korrektheit eine Rolle in eurem Diskurs spielte?
S: Natürlich muss man heutzutage aufpassen, was man sagt. Besser ist es daher, lieber dreimal über seinen Text zu lesen. Obwohl unsere politische Grundhaltung als Band klar definiert ist. Trotzdem kann es leicht passieren, dass man aufgrund einer Äußerung in die „falsche“ Ecke gedrängt wird.
Ist das euch schonmal passiert?
S: Auf unserem letzten Album „Zurück ins Licht“ gibt es den Song „Antikörper“. Am Ende singe ich da „Mal wieder auf der guten Seite / Du und ich, zurück ins Licht“. Ursprünglich lautete die Textstelle jedoch „Und wir reiten auf der guten Seite / Du und ich und John Wayne“. Dass John Wayne aber Zeit seines Lebens Nazi gewesen ist, war uns zuerst gar nicht bewusst, bevor wir uns etwas näher mit der Person Waynes beschäftigt haben. Für mich war er bis dahin einfach nur ein Western-Held. Spätestens aber unsere Fans hätten uns auf den Fauxpas aufmerksam gemacht. Den Song spielen wir aber nicht mehr.
Dafür aber auf der kommenden Tour einige Songs eures neuen Albums?
S: Genau. Und irgendwie ist es auch eine große Last, die dann von Beginn der Tour an von mir fallen wird. Diese ganzen Gespräche und Streitereien über Akkorde, Texte und Setlisten verschwinden mit einem Mal. Wir können uns gegenseitig so extrem auf die Nerven gehen, aber auf der Bühne sind wir eine Einheit. Zusammen mit unserem Publikum. Und ich bin mir ziemlich sicher: Unsere Fans werden von Anfang an jede neue Textzeile mitsingen können.
Wenn sie sich das Konzert denn überhaupt leisten können…
N: Das Ticket für ein Konzert kostet mittlerweile 35€. Für die aktuelle Tour mussten wir die Ticketpreise leider noch einmal um 5% erhöhen. In den letzten Jahren sind die Kosten einer solchen Produktion enorm gestiegen. Wir führen viele Gespräche mit Fans, die gerne auf das ein oder andere Konzert von uns kommen wollen, es aber aufgrund der erhöhten Ticketpreise einfach nicht mehr schaffen.
Wie fühlt sich das für euch an?
N: Natürlich ist das bitter. Aber wenn man bei etwa 400 Leuten pro Konzert immer das ein oder andere Auge zudrücken würde, dann würde das „Geschäftsmodell“ der Band irgendwann nicht mehr funktionieren. Die Rosenheimer Band Kaffkiez beispielsweise spielt nach ihrer ausverkauften Tour einfach nochmal acht zusätzliche Konzerte in kleinen Clubs der Republik. Völlig umsonst. Das ist geil. Muss man sich aber auch leisten können.
So wie vielleicht auch einen Tag am Meer. Bei eurer gleichnamigen Nummer „Tag am Meer“ jedenfalls kommt man nicht sofort ins Strandfeeling.
S: Den Ausbruchs- bzw. den Freiheits-Gedanken, den dieser Song transportieren will, kann man meines Erachtens schon gut heraushören. Das Bild dieses einen freien Tages am Meer und der Weg dorthin bringt das Lied gut rüber, denke ich. Es geht uns mit diesem Song vor allem darum, beim Zuhörer das Gefühl zu erzeugen, den Alltag zurücklassen zu können und zu dürfen.
N: Und wir hier in unserer Ecke NRWs haben sowieso das Privileg, innerhalb einiger weniger Stunden Autofahrt die niederländische oder belgische Küste erreichen zu können. Oder um es platt auszudrücken: Einfach mit Stinkefinger aus der Stadt rausfahren, dann einen Tag am Meer durchatmen und wieder zurückkommen. Das will der Song ausdrücken.
Zurückkommen auch zur Social Media- Generation „Kauf 'n Bitcoin, denn sonst läuft das nicht“, die ihr in eurem Song „Disko“ thematisiert?
S: Ich weiß nicht, ob ich mich tatsächlich einen Tag am Meer von der heutigen Jugend erholen muss, aber na klar, die Nummer bringt die jugendliche Unbeschwertheit und das damit verbundene Nicht-drüber-Nachdenken klar auf den Tisch. Bei mir ist das alles nämlich nicht mehr so unbeschwert. Man hat Familie und Verpflichtungen, und man hat Existenzängste, wenn mal etwas passiert. Dem Hauptprotagonisten bei „Disko“ sind solche Ängste fremd. Er lebt einfach in den Tag hinein.
N: Mich stresst dieser permanente Social Media-Kram maximal. Mittlerweile gehe ich dazu über, vor dem Schlafengehen eine halbe Stunde zu lesen. Das ist so entschleunigend.
Gehen wir vor die Hunde?
S: Das, was zurzeit sowohl national als auch international passiert, ist definitiv nicht schön. Trotzdem habe ich es mir abgewöhnt, die Dinge immer nur pessimistisch zu betrachten. Das bringt mich nicht weiter. Und um die Jugend noch einmal „zurückzuholen“: Ich bin begeistert, wie viele junge Menschen heute auf die Straße gehen, um gegen Rechtsextremismus und die AfD zu demonstrieren, und um für Veränderungen auf vielen Ebenen zu kämpfen. So politikinteressiert war ich in meiner Jugend nicht. Also: Es wird schon.
Vielen Dank für das Interview.
[1] Die Stadt ist wegen des höchsten Durchschnittseinkommens pro Jahr in Nordrhein-Westfalen auch als „Stadt der Millionäre“ bekannt.