Den Holocaust mit der eigenen Brille betrachten

Grevenbroich (kle) Samstag-Nachmittag vor dem Denkhaus im Klosterweg: Der Frühling kündigt sich an, ein paar Narzissen säumen den Weg. Die Luft riecht wie frische Wiese.   

Vielleicht war es so oder so ähnlich auch im März 1930, als Klara Aussen (ehemals Klara Winter) aus Hemmerden ihrer Nichte Sophie Aussen zum 12. Geburtstag ein Poesiealbum schenkte, bevor sie dann kurz darauf mit ihrem Mann in die Niederlande nach Wijhe zog. Klara selbst besaß auch ein Poesiealbum. - In solch ein Album wurden von Freunden, Bekannten oder Verwandten zumeist Zitate in Form von Reimen und Versen eingetragen. Manchmal dekorierten Bilder oder gar Fotos diese Verse. Auf jeden Fall war ein Poesiealbum stets ein Dokument einer bestehenden persönlichen Beziehung zwischen zwei Menschen. - 1933 dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Sie jagten Menschen jüdischen Glaubens, pferchten sie in Zugwaggons und deportierten sie in Konzentrationslager, in denen viele Millionen von ihnen ums Leben kamen. Bei Klara und Sophie, die der jüdischen Gemeinde in Grevenbroich angehörten, war es so: Klara wurde am 14. September 1943 von Wijhe aus nach Auschwitz deportiert. Sie war eine von wenigen Überlebenden des Lagers, verstarb jedoch kurz nach der Befreiung durch die Alliierten am 3. März 1945. Sophie entging dem Holocaust, weil sie sich zusammen mit ihrem Vater erfolgreich in den Niederlanden verstecken konnte. Das Poesiealbum ihrer Tante Klara und ihr eigenes trug sie die Jahre im Versteck über stets bei sich. Dadurch überstanden die Alben unbeschadet den Krieg.

Zurück zum Denkhaus im Klosterweg an diesem schönen Frühlingstag. Mittlerweile sind zu diesem Pressetermin alle Verantwortlichen erschienen: Der Vorsitzende des Grevenbroicher Geschichtsvereins, Ulrich Herlitz. Ute Schult mit ihrem Ehemann Norbert Sachs, Sohn von Helmut Sachs, der als Elfjähriger 1941 von Hemmerden nach Riga deportiert wurde und als einer von Wenigen der Familie Winter / Sachs den Holocaust überlebte. Grafiker Helmut Coenen und last but not least Sebastian Potschka, Geschichtslehrer an der Diedrich-Uhlhorn-Realschule und Hauptorganisator der alljährlichen Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz.             

Die Tür der ehemaligen Trauerhalle steht offen, von weitem erkennt man das Kreuz Jesu mittig an der Westwand. Darunter hängt ein Plakat. Auf dem steht in großen Buchstaben „Urteile nur über das, was dich angeht / Dann hast du allezeit Frieden“. Man muss schon näher herangehen, um dann noch „Dein Onkel Fritz, Hemmerden, 4.1.1932“ entziffern zu können. Die linke untere Ecke des Plakats verrät, woraus die Verse entstammen. Nämlich aus dem „Poesiealbum Sophie Aussen“.

Die Idee von Ulrich Herlitz war folgende: Man nehme die beiden Poesiealben, die sich bis heute im Besitz von Sophies Tochter Carry Bosman-Levi befinden, stelle bestimmte Textpassagen und Fotos aus den Alben auf hochwertigen Plakaten grafisch dar und organisiere mit dem daraus resultierenden Ergebnis eine Ausstellung. Gesagt, getan. Herlitz besorgte sich Klaras und Sophies Poesiealbum, engagierte den Profi-Grafiker Helmut Coenen und nannte die Ausstellung schließlich „Was sich niemals wiederholt im Leben, das ist die Kindheit und das Vaterhaus“. Bleibt am Ende noch die Frage offen, was genau Herlitz und die Stadt Grevenbroich mit solch einer Ausstellung bezwecken wollen. Die Antwort darauf ist so einfach wie kompliziert. Natürlich, so der Geschichts-Fachmann, gehe es zunächst einmal darum, vor allem junge Menschen für das Thema Holocaust zu sensibilisieren. Die Poesiealben und deren „Heile-Welt-Darstellungen“ seien prädestiniert dafür. Nur die Wenigsten hätten damals geahnt, welche Grausamkeit ihnen widerfahren würde. Sebastian Potschka pflichtet dem bei und konstatiert: „Nur noch etwa 20 Prozent aller Jugendlichen können etwas mit dem Begriff Holocaust anfangen. Die Zeitzeugen sind mittlerweile allesamt verstorben.“ Da sei es doch nur logisch, dieses schreckliche historische Geschehnis ganz nah aus unserer eigenen Brille zu betrachten und sich die Frage zu stellen: Wie war das denn eigentlich bei uns hier in Wevelinghoven? Aus der Ausstellungs-Idee wurde schließlich eine Wanderausstellung, sind Herlitz und Potschka mit ihr doch mittlerweile schon in drei Schulen gewesen.

Klara und Sophie Aussen jedenfalls, die zwei hätten sich zu Beginn des Frühlings 1930 nicht im Ansatz vorstellen können, welche Bedeutung ihre beiden Poesiealben fast 100 Jahre später für die Gesellschaft in Grevenbroich und darüber hinaus haben würden. „Rosen, Tulpen, Nelken, die drei verwelken / Marmor, Stein und Eisen bricht / aber unser Freundschaft nicht“, schrieb Henny ihrer Schwester Klara einst 1910 in ihr Album. Das geht unter die Haut.


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