Der Entstörer - was, wenn da niemand mehr ist, dem wir verzeihen können?

Neuss (kle) „Was, wenn sie nicht existiert, die eine Wahrheit?“, fragt Jonas verstohlen in sich hinein. Halb steht, halb kniet er dabei im Hausflur vor seiner Wohnung. Fertig sieht er aus. Mitgenommen. Irgendwie völlig neben der Spur. Hat er doch fast eine Stunde zuvor das Theater-Publikum davon zu überzeugen versucht, dass jedwedes Geschehen einem großen Plan, einer bösen Macht folgen würde, und wir alle – die sogenannten Schlaf-Schafe, die Ahnungslosen – das einfach nicht checken würden. Noch nicht. Denn das, so Jonas, sei seine Bestimmung, seine Mission: als Kämpfer für die Wahrheit uns alle ins rechte Licht zu führen.

Da hockt er also nun, Anton Löwe alias Jonas, und wirkt zutiefst verunsichert durch den Satz, den seine Nachbarin Trixie ihm bei einem Kaffee wie einen Floh ins Ohr gesetzt hat: „Was, wenn sie nicht existiert, die eine Wahrheit?“ Aus einem inneren Reflex heraus möchte man aufstehen, Jonas rütteln und schütteln, ihn in den Arm nehmen und diesen einen und einzigen Moment der Hoffnung bis ans Ende seiner Tage wie den eigenen Augapfel beschützen. Doch dieser eine Moment, der, von dem an sich alles hätte zum Guten für Jonas wenden können, der eine Moment, in dem er wutentbrannt in sein Zimmer stürmt und all die Alufolie von den Wänden und Decken herunterreißt und schreit „Ich will nur einmal normal sein können!“, dieser eine Moment kehrt sich um ins vollkommen Abstruse. Denn: In seinem Tabletten-Rausch erscheint ihm Trixie als Echsen-Mensch, als Reptiloid. Jonas stürzt zu Boden, verkriecht sich hinter der einzigen Bühnen-Requisite, einer schwarzen Schiefer-Tafel, und erhebt sich nur Sekunden später hinter ihr als grauenvolles Echsen-Wesen mit verzerrt dunkler Stimme. Eigentlich ist es völlig egal, was diese Vision eines Monsters den Zuschauern erzählt - dass es nämlich einer Spezies angehöre, die die Welt im Innersten zusammenhält oder sowas Ähnliches – viel wichtiger ist: Die fleischgewordene Echse stößt den Zuschauern des heutigen Abends einen spitzen Dolch der unabänderlichen Erkenntnis mitten hinein ins Herz: Jonas ist nicht mehr zu retten. Aus Hoffnung wird bittere Realität.

Voraus-ahnen jedoch kann man diesen Moment der Bitterkeit schon von Minute eins an, als Löwe frech einfach so inmitten des Publikums sitzt und eine nichts-ahnende Zuschauerin mit auffällig ruhiger Stimme und den Worten „ich glaube, hier ist es sicher, oder?“ anspricht. Löwe geht ran ans Eingemachte, an die Zuschauer, die sich bis dahin noch in Sicherheit gewiegt haben. Ein eiskalter Schauer überkommt einen. Dass Löwe schließlich nach vorne hüpft und sich höflich als Jonas vorstellt – das sei allerdings nur sein operativer Tarnname – entspannt die Situation nur kurzfristig ein bisschen. In den darauffolgenden vierzig Minuten werden die Theaterbesucher Zeugen einer Art Verschwörungs-Theorien-Kabarett: Löwe schmeißt sich in seinem Alu-T-Shirt auf den Boden, spricht das eine Mal von Polymer-Wolken, in denen ein Nervengift enthalten sei, um die Menschen gefügig zu machen, das andere Mal von Bill Gates, der als Chef der WHO (World Health Organization) die Menschen mittels Impfungen „computerisieren“ will. Und immer spricht Jonas von „denen da oben“.

Traurig und tragisch ist Jonas Geschichte allemal, und es ist nicht immer einfach, sie in der knappen Stunde Aufführung an sich heranzulassen. Kennen doch viele aus dem Publikum Freunde, Bekannte oder gar Verwandte, die in den letzten Jahren ähnlich sukzessive in derlei Wahnvorstellungen abgedriftet sind. Der einstige Gesundheitsminister Jens Spahn sagte zu Beginn der Coronakrise: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Was aber, wenn da niemand mehr ist, dem wir verzeihen könnten? Jonas jedenfalls verlässt am Ende ausgelaugt und resigniert den Raum. „Against all evil!“, schreit er noch einmal mit letzter Kraft in die Zuschauerreihen. Dann ist er weg.  


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Die Würde sitzt neben Maria Ressa