Hofesh Shechter - tanzen jenseits der Grenzen von Physik
Neuss (kle) Was sollte man als kulturaffiner Mensch in seinem Leben unbedingt einmal gesehen haben? Nun ja, womöglich eine Varieté-Show im Pariser Moulin Rouge, vielleicht auch ein Jazzkonzert im New Yorker Birdland oder gar den Día de los Muertos in Mexiko-Stadt. Seit Samstag-Abend kann man diese imaginäre Liste der Must-Sees getrost erweitern: und zwar um die moderne Tanzinszenierung des Star-Choerografen Hofesh Shechter mit dem Titel „Double Murder“. Zu sehen gab es die nämlich zum Saisonabschluss der Internationalen Tanzwochen in der Neusser Stadthalle.
Und die öffnet um kurz vor acht ihre Pforten, viele der rund 700 Zuschauer sind in feinster Abendgarderobe erschienen. Die Stimmung ist gelöst, es wird gebrabbelt, was das Zeug hält. Die Bühne hüllt sich in zartem Nebel. Schließlich verdunkelt sich die Halle, ein junger Mann in weißer Kleidung begrüßt das Publikum mit den Worten „Hallo, wir sind zurück!“. Dann ertönt der berühmte CanCan „Orphée Aux Enfers“ und die zehn Tänzer der Shechter-Kompanie tummeln sich sodann wildtanzend im Rampenlicht. Wie eine Schlange verbreitet sich die trügerische Leichtigkeit zwischen den Stuhlreihen. Einige schunkeln sogar schon mit. Aber ihr Schunkeln bleibt ihnen nur kurze Zeit später im Nacken stecken. Denn: Der CanCan verstummt, und der erste Akt der Aufführung namens „Clowns“ beginnt.
Zu wummernden und düsteren Drum and Bass-Rhythmen räkeln sich die fünf Tänzerinnen und fünf Tänzer wie ein Schwarm in-, über- und durcheinander. Man fragt sich: Wie um alles in der Welt machen die das nur? Wie kann man sich jede einzelne Schrittfolge, jede einzelne Handbewegung in dieser intensiven Dynamik nur merken? Wohin man auch schaut, nie verharren die Tänzer in nur einer Position. Es ist, als seien hunderte Stillleben außer Rand und Band. Mal hüpfen die einen freudig auf und ab, nachdem sie ihren Kompagnon mithilfe einer eindeutigen Gestik hinterrücks „um die Ecke gebracht“ haben, mal japsen die anderen torkelnd nach Luft oder winden sich sterbend auf dem Boden. Ein buntes Gemetzel, soweit das Auge reicht. Das Schunkeln, die meisten der Zuschauer wissen zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr, was das eigentlich ist. Schauen sie doch mittels choreografierter Zeitraffung mitten hinein in die Fratze menschlicher Gewalt. Und das genau ein Jahr nach dem Massaker von Butscha. Das Fleisch samt Knochen der Besucher scheint in dieser Stunde wie erstarrt zu sein, kein Mucks, kein Hüsteln ist zu hören. Nur ein pauschaler Gedanke hängt zum Greifen nah in der Luft: Hier geschieht etwas Großes. Etwas mit unglaublich hohem kulturellem Wert. Aber es ist nicht nur die schmerzvoll-verdichtete Aussage-Ebene von „Clowns“, die wie das Paradoxon des Bösen höchstpersönlich vor einem tanzt, auch sind es die Tänzer selbst, die - losgelöst von jeglichen physikalischen Normen und authentisch nah dran am Wahnsinn - dem Publikum so konsequent den Spiegel des Teuflischen vor Augen halten, sodass man sich während der Vorstellung genau überlegt, wann es tatsächlich notwendig ist aus- und wieder einzuatmen.
Der fulminante Schluss des ersten Akts und die damit einhergehende Pause lassen die Mienen der Besucher wieder etwas erhellen. Aber der Clown-Kloß sitzt tief. Nach wie vor. Der löst sich erst während des zweiten Akts namens „The Fix“ mehr und mehr auf. Starke Scheinwerfer bestrahlen die Hauptprotagonisten zu einer teils monotonen Industrial-Rhythmik. So stellt man sich die Landung eines Ufos vor. Wichtige Stationen eines Lebens werden von den Tänzern in den Fokus gerückt. Nicht immer ist zu verstehen, was mit den einzelnen Choreografie-Elementen ausgesagt werden soll, aber Aspekte wie das Muttersein, die Geburt, Gefühle von Geborgenheit, das Verliebtsein, ja, die Liebe generell sind klar zu erkennen. Mit sensibler Wucht tanzt sich die Kompanie schließlich in die Herzen der Zuschauer. Dass die Tänzer dafür am Ende sogar von der Bühne springen, mitten hinein in die Reihen laufen und den ein oder anderen umarmen, passt zu diesem Abend vollkommen emotionaler Ambivalenz. Fazit: Wird am Ende, nachdem sich die Menschen sich zunächst die Schlachtbank in die Hand gedrückt haben, dann doch à la Hollywood alles gut? Nein, das wäre töricht anzunehmen. Aber eine Erkenntnis fährt mit nach Hause: Da steckt ganz schön viel Zerstörerisches und ganz schön viel Lebensbejahendes in jedem von uns. Nun kommt es nur noch darauf an, was wir daraus machen.