Der Tramp zu Gast im Rheinischen Landestheater
Neuss (kle) Als Hajo Wiesemann (Flügel) und Christoph König (Violine) um kurz nach acht in Frack und mit bleich geschminkten Gesichtern unaufgeregt die Seite der Theaterbühne betreten, sind die Scheinwerfer auf sie gerichtet. Ein kurzer instrumentaler Auftakt, das Zusammenspiel der beiden ist pure Symbiose, das Schauspiel ohne Worte - „die Lichter der Großstadt“ - beginnt, das Publikum taucht sofort ein in die Welt der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts.
Und in diese Welt stolpert ein paar Sekunden später der Held, oder besser gesagt der Antiheld des Abends: Der Tramp, Charlie Chaplins zeitlose Paraderolle. Heute gespielt von Johannes Bauer. Was für eine schwere Bürde für einen Schauspieler, mag man meinen. Und welch ein Mut, sie anzunehmen, mag man meinen. Das mit der schweren Bürde stimmt. Das mit dem Mut auch. Vor allem aber stimmt das Narrativ, dass Menschen mit Mut und einer schweren Bürde über sich hinauswachsen können. Und genau das macht Johannes Bauer. Er wächst über sich hinaus.
Genau wie auch die namenlose Figur des Landstreichers in der Tragikomödie am Ende über sich hinauswächst. Denn es ist so: Der Tramp begegnet in der Großstadt einem blinden Blumenmädchen, gibt sich vor ihr als wohlhabender Mann aus und verliebt sich in sie. Es ist bitterkalt. Natürlich. Denn die Menschen dieser Welt scheinen nur drei Dinge zu kennen: Sich, ihre Ellenbogen und das Geld. - Stellt sich nun die Frage, wie man auf diese gesellschaftliche Schieflage inszenatorisch aufmerksam machen kann. Ganz einfach: Man setzt den Schergendarstellern überdimensional große Steinköpfe auf ihre Schultern und lässt sie von Szene zu Szene trampelnd und zerstörend umherstreifen. Genial angsteinflößend. -
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Der Tramp hält einen alkoholsüchtigen Millionär von einem Selbstmord ab und wird daraufhin sein bester Freund. Die Freundschaft der beiden besteht jedoch nur, wenn der Millionär betrunken ist. Ist er nüchtern, kennt er den Landstreicher nicht. Natürlich. Gesellschaftliche Konvention. - Die Rolle des Millionärs wird heute Abend ersatzweise gespielt von Antonia Schirmeister. Niklas Maienschein, der eigentlich für die Rolle vorgesehen gewesen war, musste aufgrund einer Erkrankung leider passen. Und das Wort „ersatzweise“ besitzt in diesem Kontext einen faden Beigeschmack. Denkt man. Antonia Schirmeister hat auf diesen faden Beigeschmack aber keine Lust. Sie hat Lust auf leidenschaftliches Spiel, sie hat Lust auf dieses Über-Sich-Hinauswachsen. Ihre Mimik und Gestik, so klar, so gekonnt. Man möchte mehr von ihr sehen. -
Und das blinde Blumenmädchen, gespielt von Anna Lisa Grebe? Es ist aus dramaturgischer Sicht nicht umsonst blind. Sein Leid schreit nach Linderung, schreit nach einer allumfassenden Gerechtigkeit in einer Welt, in der die Schwachen nicht zu schreien haben. Und siehe da, das Wunder scheint so nah: Durch eine Augenoperation könnte sie wieder sehen. Der Tramp verspricht die Operation zu bezahlen. Er versucht sich als Verkäufer, als Schuhputzer, als Boxkämpfer, - und: Es folgt ein darstellerischer Höhepunkt: Er singt französische Chansons. Herrlich. Wundervoll. Bauer agiert zusammen mit König auf aberwitzige Weise. Blicke, die den Saal lauthals Auflachen lassen. Tempiwechsel. Bauer bewegt sich wie Chaplin. Er ist Chaplin. Leicht. Schwungvoll. Außergewöhnlich. Was für ein Schauspieler. Chaplin vermisst niemand. -
Die gesamte Summe für die Operation bekommt der Tramp aber nicht zusammen. Es folgt ein erneutes Treffen mit dem Millionär. Der schenkt ihm das benötigte Geld. So einfach. So einfach? Nein. Die Steinköpfe überfallen die beiden und schlagen sie nieder. Dem Tramp gelingt jedoch die Flucht, und er kann dem Blumenmädchen das Geld übergeben. Während sie sich operieren lässt, wird er verhaftet. Na klar. Der arme Landstreicher wird verdächtigt den Millionär beraubt zu haben. - Genial: Das Gefängnis einfach inszeniert als ein Gefangensein, als ein Nicht-Vom-Fleck-Kommen. Der Tramp versucht immer wieder auf die Beine zu kommen. Jedoch zwecklos. Er bleibt kleben. Kommt nicht zu seinem geliebten Blumenmädchen. Herzzerreißend. Schluchzer im Publikum sind zu hören. -
Das Ende: Es ist happy. Das mittlerweile geheilte Blumenmädchen und der aus dem Gefängnis entlassene Tramp begegnen sich dann doch noch. Zufällig. Und der Zufall ist das, was den beiden zu-fällt. Sie nehmen es gerne.
Standing Ovations.