Allan Karlsson und Julius Jonsson ringen in der Stadtbücherei nach Luft
Im Vorfeld und ganz im Zeichen der Neanderland Biennale 2019, die in diesem Jahr unter dem Festivalmotto „Theater hoch 10“ am 29. Juni startet, las der Schauspieler Lars Lienen aus dem Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ vor. Er verwandelte den schattierten Raum der Stadtbücherei in ein Kopfkino, in den Hauptrollen die beiden verwegenen Senioren Allan und Julius.
Haan (kle) Das Quecksilber steigt an diesem herrlichen Sommersamstag vor dem Eiscafe Eisbär auf beinahe 30 Grad Celsius. Keine besonders guten äußeren Voraussetzungen also für eine Romanlesung in der Stadtbücherei, könnte man meinen. Höhere Gewalt. Schicksal eines Künstlers.
Die Atmosphäre im Foyer der Bibliothek kurz vor Beginn der Vorstellung ist daher alles andere als entspannt. Julia Nahas, Neusser Kultur- und Theaterpädagogin und verantwortlich für das Rahmenprogramm der Neanderland Biennale 2019, begrüßt die überschaubare Anzahl der Literaturbegeisterten und fügt fast entschuldigend hinzu: „Das Wetter ist heute Konkurrenz für uns.“ Mit „uns“ meint sie nicht nur die insgesamt acht anwesenden Zuhörer, die den Eisbären oder eine andere erfrischende Lokalität hinter sich gelassen haben, um etwas über die beiden Hauptprotagonisten Allan Karlsson und Julius Jonsson aus dem Erfolgsroman des schwedischen Autors Jonas Jonasson „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ zu erfahren. Sie meint damit auch ihren Kollegen Lars Lienen, Schauspieler, Regisseur und Autor aus Erkrath, der aus eben jenem Werk vorliest.
Und das macht er dann auch, und wie. Kein „Schön, dass sie den Weg zu uns gefunden haben“, kein „Hallo“, einfach nur „Man möchte meinen, er hätte seine Entscheidung etwas früher treffen […] können.“ Der erste Satz des Romans zusammen mit der präsent-beruhigenden Stimme Lienens schmeißt die mutigen Acht - Presse und Fotograf nicht dazu gerechnet – ins erfrischende Wasser gut vorgetragener Literatur. Freibad kann jeder.
Die Geschichte: Allan Karlsson begibt sich an seinem hundertsten Geburtstag auf seine womöglich letzte große Reise. Dazu muss er jedoch zunächst einmal sein streng bewachtes Zimmer im Seniorenheim verlassen. Wie so oft in seinem Leben hilft ihm auch bei diesem Kraftakt der Zufall: Halb zog dieser ihn, halb sank er dahin. Auf der Flucht trifft er den siebzigjährigen Gelegenheitsdieb Julius Jonsson; gemeinsam gehen sie, im Spannungsfeld zwischen organisierter Kriminalität und überforderter Staatsmacht, einem grotesk-schönen Lebensabend entgegen.
Lienen gibt alles. Er breitet seine stimmlichen, mimischen und gestischen Fähigkeiten im dumpfen Licht der dreiarmigen Tischlampe vor der erstaunlich konzentrierten Zuhörerschaft aus, die schwedischen Ortsnamen perfekt intoniert, der Text lebt, die Luft allerdings wird knapp.
Knapp wird später auch noch Joghurt-Amarena im Eisbären. Eine Lesung im Eiscafe, das wärs. Vielleicht beim nächsten Mal.