Schützenfest Neuss -„Tradition lässt sich nicht von jetzt auf gleich umkrempeln“
Wevelinghoven (kle) Ein paar Schritte sind es noch bis Hausnummer 12 in der Dr.-Kottmann-Straße. Einfamilienhäuser mit kleinen Vorgärten prägen das Umfeld. Manche Gartenzäune oder Hausfassaden sind bunt verziert. An anderen hängen Schilder. Auf einem steht „Hoch lebe unser Zugkönig - Jägerzug Volltreffer“ oder „Hoch lebe unser Kronprinz“. Und genau mit dem bin ich verabredet. Mit dem diesjährigen Kronprinzen Ralf Rosenberger.
Die Atmosphäre ist freundlich. „Maniac“ von Michael Sembello kommt aus der kleinen Musikbox. Männer mittleren Alters gehen ein und aus. Sie sind Ralfs Leibgarde. Es wird gegrillt. Es wird getrunken. Seine Gattin Gabi wirbelt aufgeregt zwischen dem vorderen Zeltpavillon und dem Hausflur umher. Dass sie nunmehr seit dem letzten Königsvogelschuss Kronprinzessin ist und in ein paar Tagen beim Zapfenstreich zur neuen Schützenkönigin gekürt werde, sei für sie das größte im Leben, resümiert Ralf. Überhaupt schmeißt er nur so mit Superlativen um sich, wenn es um die Schützentradition geht. Einen wahnsinnigen Zusammenhalt fördere die, das ganz Dorf stehe Kopf, und: Seine Majestät, der aktuelle König Stefan Fücker, halte sich derzeit noch zusammen mit Königin Ursel in deren „Königsburg“ auf.
Dem verstaubten Militärjargon kann ich nichts abgewinnen. Ralfs achtjähriger Sohn Malte auch nicht. Noch nicht. Aber daran wird gearbeitet. Malte ist nämlich bei den sogenannten Edelknaben. Denn: Das Schützenbrauchtum könne man nicht einfach so irgendwie irgendwann erlernen. Das müsse man im Prinzip schon mit der Muttermilch aufsaugen, sinniert Ralf. Die Edelknaben träfen sich ein paarmal im Jahr. Ein Höhepunkt für die Jungs: Das Zeltlager. Und während ich mir das alles so versuche vorzustellen, läuft Ralf plötzlich erschrocken zur Straße. „Der Präsident, der Präsident!“, ruft er. Dann zerrt er seine Gabi mit nach vorne.
Eine Kutsche mit dem Präsidenten des Schützenvereins, Marcus Odenthal, fährt langsam vorbei. Gezogen von zwei wunderschönen Warmblütern. Ralf und Gabi winken dem Präsidenten zu. In welcher Welt ich denn heute Abend hier gelandet bin, frage ich mich. Und Ralf. Der lacht. Sowieso ist er ein total verständnisvoller Typ. Offen für neue Ideen. Jedenfalls sei er offener als viele andere im Verein, schießt es aus ihm heraus. Das Einschießen des Festes zum Beispiel habe er sich in diesem Jahr auch ohne die große Kanone vorstellen können. Man müsse ja schließlich auch ein wenig auf die aktuelle politische Situation in der Ukraine Rücksicht nehmen, findet er. Wem das alles zu weit hergeholt ist, ergänzt er, müsse sich einfach Mal die durch Artilleriebeschuss traumatisierten Flüchtlingskinder, die es auch in Wevelinghoven gäbe, vor Augen halten. Am Ende wurde dann doch geschossen. Wie immer. „Tradition lässt sich nicht von jetzt auf gleich umkrempeln. Sowas ist schwierig“, stellt Ralf klar. Und am Ende sagt er noch etwas, das mich nachdenklich weiterziehen lässt: „Ich habe bis heute noch nichts gefunden, das mein Heimatgefühl besser ausdrücken könnte , als die Schützenkultur.“ Zwei Herzen schlagen in seiner Brust. Und auch in meiner. „Sweet Child O‘Mine“ von Guns N’ Roses kommt aus der kleinen Musikbox.
Im Ort herrscht reges Treiben. „Goldmarie“ von Tream & HBz läuft auf dem Kirmesplatz auf der Autoscooter Anlage. In der Luft liegt Bratwurst, Pommes und Bier. Das Personal des Grevenbroicher Ordnungsamtes wirkt angespannt. Äußern zur Einschätzung der Lage wolle und dürfe es sich nicht, bekomme ich forsch zu hören. Stefan Fücker, am Dienstag ausscheidender Schützenkönig, wisse auch nicht, was der Sicherheitsdienst zu sagen hätte. Alles sei bisher gut angelaufen. Es gäbe keine Zwischenfälle. Mit ihm und seiner Gattin Ursel plaudere ich kurz vor Beginn des traditionellen Fackelzuges zwischen den zum Teil liebevoll gestalteten Wagen ein wenig. „Die letzten Kneipen gehen“ steht auf einem. „Endlich ist Corona wieder Bier / mit Limetten genießen macht‘s wie wir“ steht auf einem anderen. Das Thema übermäßiger Alkoholkonsum: Weggelacht. Das Thema #metoo und überhaupt das Rollenbild der Frau auf dem Schützenfest: „Wir Frauen sind in den nächsten Tagen nunmal schmückendes Beiwerk“, sagt Königin Ursel: Weggelacht. Das Thema Kriegs Sensibilität: „Es gab und gibt doch schon immer Kriege auf der Welt“, konstatiert Königin Ursel: Weggelacht. Beinahe. Wäre da nicht ein dritter Wagen mit der Aufschrie „Make Love, Not War“.
Schwere Themen sind jedoch nicht wirklich Gebot der Stunde. Die Gier der Menschen nach feierlicher Tradition: Sie schien nie größer zu sein als hier und heute. Inmitten dieser Feiertrunkenheit betont Ursel Fücker, wie wertvoll das Schützenwesen für die kulturelle Identität dieser Region sei. Und: „Ich möchte an die zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die von unserem Verein ausgehen, erinnern. Wir sind der Kitt unserer kleinen Gesellschaft.“ Am Ende des Fackelzuges treffe ich noch Melanie Schmitz. Etwas verloren steht sie mi t ihrem Baby am Straßenrand. Seit sieben Jahren lebe die gebürtige Karlsruherin nun schon hier. Aber so richtig nachempfinden werde sie die rheinische Schützentradition wohl nie, glaubt sie. „Militärische Rhetorik und Frauen als schmückendes Beiwerk: Das passe nicht in unsere heutige Zeit.“ Ich verabschiede mich. „Marathon“ von Helene Fischer läuft auf dem Kirmesplatz.